In Russlands Staatsmedien war der deutsche Außenminister am Wochenende ein viel zitierter Mann. Schließlich spiegelte Frank-Walter Steinmeiers Klage über die Nato-Manöver in Polen und im Baltikum als „Kriegsgeheul und Säbelrasseln“ die vom Kreml seit langem vermittelte Bedrohungslage wider. Die Nato sei „der Faschismus des 21. Jahrhunderts“, stand dieser Tage etwa auf Plakaten auf einer Demonstration der systemtreuen Kommunisten in Moskau: „Nein zum Krieg! Nein zur Nato!“ Befürchtungen insbesondere osteuropäischer Nato-Mitglieder mit Blick auf eine russische Aggression nach dem Muster der Krim werden in Moskau stets als „absurd“ und „russophob“ zurückgewiesen, auch als „hysterisch“, als Einbildung – schließlich bestreitet man weiterhin, in der Ostukraine Kriegspartei zu sein.
Autor: Friedrich Schmidt, Politischer Korrespondent für Russland und die GUS in Moskau. Folgen:
Entsprechend wird ein Gefühl der eigenen Bedrohung kultiviert. Aus dem russischen Außenministerium hieß es vor kurzem, die von der Nato geplante Verlegung von vier Bataillonen ins Baltikum und nach Polen sei eine „sehr gefährliche Verstärkung der Militärmacht recht nah an unseren Grenzen“. Die Verbände von jeweils 1000 Mann sollen rotieren, um eine Verletzung der Nato-Russland-Grundakte auszuschließen. Dennoch sieht Moskau den Schritt „im Gegensatz zu Geist und Buchstaben“ des Abkommens. Wladimir Komojedow, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma, sagte zwar, die vier Bataillone könnten „uns natürlich nicht einschüchtern“ und stellten „keine Gefahr für Russland“ dar, denn die Armee sei nicht mehr die „von vor 20 Jahren“. Doch sei die „Tendenz“ beunruhigend; man habe schon „Gegenmaßnahmen“ ergriffen und werde weitere ergreifen. So will Moskau weitere Zehntausende Soldaten im Süden und Westen des Landes stationieren, ganz nah an den Grenzen zur Ukraine. Besorgnis darüber wird zurückgewiesen: Dmitrij Peskow, der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, sagte am Freitag, Russland habe das Recht, innerhalb des Landes Truppen nach Belieben zu verlegen. Das bedrohe „unsere Nachbarn in keiner Weise“.
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Russlands Streitkräfte sind nicht nur mit viel Geld modernisiert worden. Ihre Soldaten werden auch ständig mit Übungen, die oft Zehntausende Soldaten einbeziehen, auf Einsätze vorbereitet. Dabei sind seit 2013 besonders die „unerwarteten Überprüfungen der Kampf- und Mobilisierungsbereitschaft“ verbreitet. Die Staatsnachrichtenagentur Ria Nowosti hat dazu eine Aufzählung veröffentlicht, die einige Dutzend dieser Übungen auflistet. So ordnete Putin am 26. Februar 2014 eine „unerwartete Überprüfung“ mit rund 150.000 Soldaten an. Was die Staatsnachrichtenagentur nicht schrieb, war, dass Zehntausende von ihnen an den Grenzen der Ukraine standen, sowie den zeitlichen Zusammenfall mit der Krim-Besetzung. Für 2015 listet Ria Nowosti allein zwölf solcher Übungen auf; so übten im März des Jahres rund 38.000 Soldaten, „die Militärsicherheit Russlands in der Arktis-Region“ zu gewährleisten; im September, kurz vor Beginn des Syrien-Einsatzes, übten rund 95.000 Soldaten des Zentralen Militärbezirks unter anderem die Landung aus der Luft an unbekanntem Ort. Im Oktober vorigen Jahres fand eine Übung der Schwarzmeerflotte statt, etwa zur Ortung feindlicher Unterseeboote und zu Angriffen mit Bomben und Raketen gegen Ziele am Meeresufer.
Nato beklagt 18 „Überprüfungen“
Für 2016 hat die Agentur auch schon acht „unerwartete“ Übungen gezählt. So trainierten im März neuerlich rund 30.000 Soldaten der Luftlandetruppen. Seit Dienstag voriger Woche – gleichzeitig zu den Nato-Manövern – werden alle vier Militärbezirke zugleich überprüft, mithin die Mobilisierung von Soldaten im ganzen Land; laut dem unabhängigen Militärfachmann Alexander Golz hat es das seit 30 Jahren nicht gegeben. Auch Reservisten sind davon betroffen, werden militärisch aus- und weitergebildet, auch über das offizielle Ende der Übung am 22. Juni hinaus. „Eine solche Mobilisierung ist nur möglich und nötig für den Fall, dass sich das Land anschickt, mit einem globalen Gegner zu kämpfen – mit der Nato oder China“, so Golz.
Ein Reiz der „unerwarteten Übungen“ besteht aus russischer Sicht darin, dass man niemanden darüber informieren müsse, wie aus dem Verteidigungsministerium verlautete. Aus dem Außenministerium hieß es zur Erklärung, dass diese „eigene, neue Form“ von Übung in den entsprechenden Verträgen nicht vorgesehen sei, weshalb auch kein Verstoß vorliege. Das richtete sich gegen Kritik von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg anlässlich der jüngsten „unerwarteten Überprüfung“. Er sieht die Maßnahmen, „snap exercises“ im Sprachgebrauch der Allianz, als Verstoß gegen das Wiener Dokument zur Beobachtung und Kontrolle von Manövern.
In seinem jüngsten Jahresbericht hatte Stoltenberg beklagt, dass Russland von 2013 bis 2015 mindestens 18 groß angelegte „unerwartete Überprüfungen“ abgehalten habe. Unter anderem sei 2013 ein Atomschlag gegen Schweden geprobt worden. In Moskau, wo es zum Inhalt der Übungen stets nur trockene Verlautbarungen gibt, wurde dieser Bericht als „Provokation“ zurückgewiesen. Auch Stoltenbergs jüngste Kritik an der Intransparenz und Unvorhersagbarkeit der russischen „unerwarteten Überprüfungen“ wies der Sprecher des Verteidigungsministeriums als Ausdruck „russophober Hysterie“ sowie als „antirussisches Spektakel“ zurück.